Biographie von Léo Marchutz

1903 Léo wurde am 29. August als mittleres von drei Kindern in Nürnberg geboren. Der Vater Carl Marschütz war Gründer, später Direktor der Nürnberger Hercules-Werke.
Humanistische Gymnasialbildung mit Latein und Griechisch.

1916 Im Alter von dreizehn Jahren beginnt er zu zeichnen und großformatige Gemälde zu religiösen Themen zu schaffen, so „Christus am Ölberg“, „Auferstehung“, „Mariä Verkündigung“ und „Himmelfahrt“ (1918). In einem Brief an einen Cousin Léos schreibt Gretel Meyer, eine entfernte Verwandte und Freundin der Familie: „Léo stand in seiner Jugend, als ich seine Bilder in Berlin ausstellte, ganz unter dem Einfluss Matthias Grünewalds. Mit damals 13 Jahren malte er ausschließlich Heilige nach Motiven aus dem Neuen Testament. Später geriet er unter starken Einfluss Cézannes.“
Er kopiert unzählige Zeichnungen von Leonardo da Vinci sowie ein Porträt von Delacroix (um 1920). Nach Aussage seines jüngeren Bruders Alfred waren die Wände Zuhause über und über mit religiösen Bildern bedeckt: „Ich erinnere mich, dass er die Wände der Diele mit Papieren beklebt hatte, auf die er wie besessen malte.“
Mit vierzehn Jahren schreibt er Gedichte, darunter eines mit dem Titel „Amenophis“.

1918 Bei einem Besuch mit seinem Vater in München, wo sie nach einem Lehrer für Malerei suchen, entdeckt er in den dortigen Museen die Werke von Cézanne und Van Gogh.
Auf dem jüdischen Friedhof von Fürth schafft er eine Steinskulptur für das Grab seiner Tante.
Fünf Jahre lang betreibt er Selbststudien in den Berliner Museen, wo er sich vor allem für die Kunst von Sumer, Babylon und des alten Ägypten ebenso wie für die griechischen Gipsabgüsse interessiert.

1919 Ende der Gymnasialzeit.
Durch die Vermittlung einer Freundin der Familie, die enge Verbindungen zu Berliner Intellektuellenkreisen unterhält, finden sich Käufer für einige seiner Werke, so der Schriftsteller Felix Hollaender oder der Regisseur Max Reinhardt, der 1919 „Die Himmelfahrt“ erwirbt. Max Reinhardt schreibt: „Hier ist nicht bloss poetische Erregtheit malerisch ausgedrückt, sondern mit genialer Sicherheit eine erdrückend grosse Zahl von Figuren zu einer keineswegs erdrückenden neuen Einheit zusammenkomponiert.“
Er selbst erklärt dazu: „Die erste Anerkennung meiner Arbeit datiert vom 27. Juni 1919, also dem Tag vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrags: der Brief von Max Reinhardt – fast 45 Jahre ist das her…“ (Tagebuch, 22. März 1964)

1920 Freundschaft mit Karl-Ernst Osthaus, dessen Gemäldesammlung Werke von Gauguin, Hodler, Signac, Cézanne u.a. enthält. Osthaus hatte Cézanne 1906 in Aix-en-Provence besucht.

1921 Erste eigene Ausstellung bei Karl-Ernst Osthaus, dem Begründer des Essener Folkwang-Museums. Die Ausstellung umfasst drei Selbstbildnisse, ein weibliches Porträt, ein männliches Porträt, ein Christus am Ölberg, ein Kopf des Heiligen Johannes und eine Hand Christi (zu einem Abendmahl).
Studien in den Berliner Museen, die sich bis ins Jahr 1928 fortsetzen.
„Immer wieder denke ich an meine Berliner Aufenthalte ab 1921, ich war viel allein, immer in den Museen unterwegs …“ (Tagebuch, 19. Januar 1960)
„Léo lehnte jegliche formale Ausbildung ab. Unser Vater bestand darauf, dass Léo eine Kunstschule besuchte, allerdings vergeblich. Ich erinnere mich daran, dass Leo schließlich doch der Anmeldung im Kunsthaus Nürnberg, einer recht angesehenen Schule, zugestimmt hatte. Die Sache war aber nicht von Dauer. Nach wenigen Wochen verwiesen ihn die Lehrer der Schule mit der Begründung, dass er sich ständig weigere, ihren Methoden zu folgen, und stattdessen seiner eigenen Wege gehe. Damit war seine formale Ausbildung beendet, und niemand war darüber glücklicher als Léo. Unser Vater war ziemlich aufgebracht, und nur dank der fortgesetzten Vermittlung meiner Mutter ließ er sich besänftigen - letztlich war unser Vater immer stolz auf die Unabhängigkeit seines Sohnes gewesen. (…) Seine Studien bestanden im Besuch wichtiger Galerien. Nachdem er in Nürnberg alles gesehen hatte, was zu sehen war, zog er weiter zu den großen Museen in München und anschließend nach Berlin. Er malte ununterbrochen weiter wie im Zorn und war dabei selten mit seiner Arbeit zufrieden, die er immer wieder zerstörte. Ich besitze einige dieser Bilder, die ich ihm wegnehmen konnte, bevor er die Gelegenheit hatte, sie zu zerreißen. Vermutlich sind dies die einzigen Werke, die heute noch existieren.“ (Auszüge aus den Erinnerungen von Alfred Marshall, Léos jüngerem Bruder).
In einem Brief an Lionello Venturi mit Datum vom 19. Dezember 48 schreibt Léo Marchutz über seine Ausbildung: „Vielleicht muss man auch die Vergangenheit in Betracht ziehen: Dass ich schon in jungen Jahren die Figuren am Portal des Bamberger Doms gesehen habe: Kaiser Heinrich II. und seine Frau und daneben Adam und Eva. Eine einzigartige Lehre. Dann in der Kirche der Reiter, Elisabeth, der Erzengel. Die Basreliefs im Chor. Das Kaisergrab Heinrichs II. von Riemenschneider. Ich bin in Nürnberg geboren und habe dort meine Jugend verbracht, also Dürer, Veit Stoss, Adam Kraft (die Stationen des Kreuzwegs). Es gab so viele wichtige Begegnungen. 1919 in München: Grünewald und zugleich zum ersten Mal Cézanne, Van Gogh, Manet, Monet, Renoir. (…) Ägypten, Mesopotamien (Rollsiegel), Griechenland (Vasen). Asien, Indien, Ferner Osten, Hokusai, Mantegna, Botticelli, Signorelli, Rembrandt und Rubens. Eine Reise nach Italien: Ghirlandaio, Donatello, Ghiberti, Giotto (in Padua), Tizian, Tintoretto (Schule von San Rocco), Poussin (in Dresden), Chardin. All das existiert nebeneinander, vermischt sich nicht. Und dann die Dichtung und die Philosophen. (…)“
Viele Jahre später, in den siebziger Jahren, wird Léo Marchutz einer Werbeschrift für seine Schule folgende biographische Notiz voranstellen: „Als junger Mann habe ich sehr methodisch in Museen gearbeitet; ich besuchte sie, um zu verstehen und die Dinge sozusagen mit meinem System in Einklang zu bringen. Immer habe ich mich für die allgemeine Struktur eines Bildes interessiert und dafür, wie die verschiedenen Elemente darin eingefügt sind. Ich erinnere mich, dass ich in einer bestimmten Phase ausschließlich darauf achtete, wie die einzelnen Künstler auf jeweils unterschiedliche Weise Ohren, Nasen, Haare behandelten, wie sie den Hals aus dem Körper heraustreten ließen. So erlangt man ein gewisses Bewusstsein dafür, was man tun sollte und was nicht.
Als ich jung war, habe ich auch viele Zeichnungen von Michelangelo, Leonardo da Vinci und Raphael kopiert, immer anhand von Reproduktionen. Ich erinnere mich zum Beispiel an bestimmte Zeichnungen von Tizian. Hunderte Male habe ich sie betrachtet, um daraus ein klares Bild von ihrer Ausführung abzuleiten. Wenn man solcherart Gemälde aus mehreren Jahrhunderten untersucht, gewinnt man nach und nach eine Idee davon, welche Elemente ihnen gemeinsam sind. Jedes Bild wird als Mitglied einer großen Familie verstanden. Und das einzelne Mitglied gewinnt eine geringere Bedeutung als sozusagen die Familienähnlichkeit. Immer habe ich stärker nach dieser Familienähnlichkeit gesucht als nach dem besonderen Ausdruck dieses oder jenes Künstlers. Mit anderen Worten, immer habe ich herauszufinden versucht, was all diese Werke miteinander verbindet. Dies, so scheint mir, vermittelte mir ein Verständnis für die Vergangenheit, was heute anscheinend nur wenige Studenten besitzen.
Ebenso habe ich, der ich schon in frühester Jugend von tropischen Pflanzen und Tieren tief beeindruckt war, unzählige Nachmittage im Nürnberger Tiergarten zugebracht. Dies hat mir viel gegeben: den Sinn für Schwere, für Bewegung, für Form, alles was man in der Natur sucht. Ich habe nie ein einziges Tier oder eine Pflanze gezeichnet, doch habe ich sie sehr genau studiert. Dies half mir später bei meinen Studien in den Museen, weil ich dabei nach dem gleichen Muster vorging. Wenn ich bei diesem Vergleich der einzelnen Tiere miteinander, diesen lebenden Kreaturen, wenn ich dabei nicht so genau und methodisch vorgegangen wäre, ich glaube, dann wäre ich ganz sicher auch Kunstwerken mit weniger Aufmerksamkeit begegnet.“
Dank der großen Ausstellung, die Paul Cassirer im selben Jahr dem Meister von Aix-en-Provence in seinem Berliner Kunstsalon widmet, lernt er Cézannes Werke näher kennen.

1921 - 24 Er zeichnet Gesichter mit einer sehr bewussten Verteilung von Werten und Akzenten. 1924 legt er ein Album mit Lithographien nach dem „Gastmahl“ von Platon vor.

1924 - 25 Er lebt und arbeitet mit Unterbrechungen in Italien, vor allem in Venedig. Besuch der Museen in Florenz und Rom. Anwendung der Pastelltechnik, speziell für eine Serie von Köpfen, die 1925 in Italien entstehen.
„In diesem Sinne will ich versuchen, einige Bilder aus den Jahren 1918 und 1920 (nein – Anfang 1920 arbeitete ich an Porträts) wieder zu finden, das waren damals zunächst Kohlezeichnungen. „Die Evangelisten“ und eine „Verkündigung“, dann „Christus am Ölberg“, „Auferstehung“ (eine der ersten, die in Neumarkt geschaffen wurden). Dann „Johannes in Patmos“, „Emmaus“, „ Der blinde Tobias“ (das meine Mutter sehr mochte), „Himmelfahrt“, das Max Reinhardt 1919 erwarb, eine „Kreuzigung“ (Heilbronn), in Münster im Sommer 1920 habe ich noch einen „Ölberg“ gemalt, aber auch Porträts von Magda H. und vom damals fünfjährigen Sohn. Es gab eine Ausstellung in Münster mit vielen solchen Dingen, ein Heiliger Paulus, dann im Januar 1921 diese Ausstellung im Folkwang-Museum. Mehr Lithographie und wenig Erinnerung. Aber es gab noch viel mehr.“ (Tagebuch, 12. Februar 1962).

1928 Erste Studienreise in die Provence auf den Spuren Cézannes. Durch den amerikanischen Maler Marsden Hartley (1877-1943), der in Châteaunoir lebte, begegnet Léo dem Maler, Schriftsteller und Kunsthistoriker Earle Loran (Johnson) (1905 - 1999). Die beiden amerikanischen Maler waren begeisterte Cézanne-Anhänger, weshalb sie sich in Aix aufhielten. Zurück in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Earle Loran 1943 eine Analyse zum Werk Cézannes, die ihm als Grundlage für seine spätere Lehre, vor allem in Kalifornien, dienen sollte.
Marsden Hartley kehrte 1930 endgültig in die Vereinigten Staaten zurück und ließ einige Bilder bei Joël Tessier, dem Besitzer von Châteaunoir, zurück mit der Maßgabe, sie sollten ihm gehören, falls er sie nicht abholen komme. Tatsächlich verstarb Hartley 1943, ohne je wieder nach Aix zurückgekehrt zu sein. Viele Jahre später erwarb der amerikanische Sammler Henry Pearlman durch Vermittlung von Léo Marchutz diesen Bestand an Gemälden, um ihn in den Vereinigten Staaten zu verkaufen.
1931 Im Frühjahr lässt sich Léo endgültig in Châteaunoir, in der Nähe von Aix-en-Provence, nieder. Julius Meier-Graefe, einer der ersten Cézanne-Biographen, besucht Châteaunoir zu Beginn der dreißiger Jahre. „Ich erinnere mich, wie begeistert er war von der großen Allee, die er Philosophenweg nannte …“ (Journal)
Anfang der dreißiger Jahre arbeitet er vor allem an Zeichnungen.

1933 Beginn der Arbeit an den Cézanne-Recherchen mit John Rewald und Fritz Novotny.

1934 Erste Begegnung mit Lionello Venturi, einem ausgewiesenen Cézanne-Experten, der Châteaunoir besucht.
Zusammen mit John Rewald veröffentlicht er in der Zeitschrift L’Amour de l’Art den Artikel „Cézanne au Château Noir“, Ergebnis der ersten Untersuchungen zu den Motiven Cézannes.
Er lässt unterhalb der Maison Maria einen Hühnerstall bauen.
31. Dezember 1934 Hochzeit mit Anna Kraus in Le Tholonet.

1934 - 44 Er versucht, mit dem Verkauf von Hühnern Geld zu verdienen, und organisiert nach und nach in der deutschen Gemeinde in Châteaunoir eine richtige Hühnerzucht, die ihm während der dunklen Jahre das Überleben sichern sollte.

1935 Im Februar Reise nach Palästina in Begleitung seines Vaters Carl Marschütz. Besuch von Jerusalem, Tel Aviv und Haifa, von wo aus sie nach Neapel einschiffen. Danach Besuch von Rom und Rückkehr nach Châteaunoir.
Zusammen mit John Rewald veröffentlicht er
-in deutscher Sprache „Le Jas de Bouffan“ in der Zeitschrift Forum IX
-in französischer Sprache „Cézanne et la Provence“ in der Zeitschrift Le Point, Ergebnis der ersten Untersuchungen zu den Motiven Cézannes.
Ende der dreißiger Jahre gibt er endgültig die Ölmalerei als künstlerisches Ausdrucksmittel auf und wendet sich nunmehr hauptsächlich dem Zeichnen zu.

1937 Nach einer Zusendung von Zeichnungen schreibt Lionello Venturi im Januar an Léo Marchutz: „Die Realität zwingen, im abstrakten Ideal zu verharren, alles, oder fast alles sagen, indem man das Wesentliche, das Reinste andeutet, den zweifachen Weg gehen, von der Realität zum Abstrakten und vom Abstrakten zur Realität, und dies ganz mühelos und selbstverständlich, schließlich, eine gleichermaßen empfindsame Seele wie strenge Intelligenz walten lassen: Genau das sagen Sie mir, wenn ich Ihre Zeichnungen betrachte. Und noch ein anderer Zauber liegt darin, doch ist er gefährlich: ein Vorbehalt, aus dem Schüchternheit zu sprechen scheint! In all dieser aufs Wesentliche reduzierten Reinheit taucht zuweilen, man weiß nicht woher, eine tragische Note auf. Hier sind Ihre Zeichnungen am schönsten, am vollkommensten…“

1939 Am 29. März Scheidung von Anna Kraus, die daraufhin den amerikanischen Architekten deutscher Herkunft Konrad Wachsmann heiratet.
Anfang September wird er im Lager Les Milles bei Aix-en-Provence in der „Gruppe 6“ interniert. Er fährt fort zu zeichnen.

1940 Am 19. Februar wird Léo vorübergehend aus Les Milles entlassen, nachdem er im Dezember 1939 zugestimmt hatte, als „Prestatär“ - als ausländischer Arbeiter in Uniform der französischen Armee - Arbeitsdienst zu leisten. Er wird ab 31. Januar einem Kino in Manosque zugewiesen, um kurz vor seiner Befreiung erneut ins Lager Les Milles zurückzukehren.
Sein Lagerkamerad Heinz Lunau zeichnet in einem Brief vom 17./18. Februar an seine Frau Elisabeth folgendes Porträt von ihm:
„Leo [Marschütz] ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Künstler und Maler vorstellt! Einer der seltenen Fälle – unter den wenigen Malern, die ich kenne -, der schon immer das Bedürfnis hatte, durch Nachdenken das zu vertiefen, was er in seiner Malerei macht oder sich erträumt; er ist nicht nur außergewöhnlich gebildet in allem, was Kunst und Kunstgeschichte angeht, er hat viel gelesen, vor allem Philosophisches und es ist bewegend, zu sehen, mit welcher Ernsthaftigkeit und einmaliger Geduld und eben soviel Vergnügen er z.B. die Studien von H[enri] Bergson liest. Er leidet darunter, daß die meisten der sogenannten Künstler es nicht ebenso machen. Er hat lange Zeit im Château-Noir gelebt, ohne engere Kontakte gehabt zu haben; deshalb ist er es nicht gewohnt, Gespräche mit denen zu führen, die sich nicht ebenso ernsthaft wie er um die Kunst kümmern. In dem Fall kann er wunderbar sein und ich mag ihn niemals mehr als in den Momenten, da er sich darüber aufregt, daß jemand Blödsinn redet, mit falschen Argumenten und auf der Grundlage oberflächlicher Kenntnisse; denn dann wird er ernsthaft böse, wird rot und aufgeregt, benutzt nicht immer angenehm klingende Ausdrücke – Unsinn, Idiotie, das ist kein Gedanke, das ist ein leeres Wort, das sind Worte ohne Sinn – kurz, all diese Ausdrücke, die man benutzt, um klar zu sein und die niemand hören mag. Und dieser Genuß an der Reflexion beschränkt sich nicht auf das Nachdenken über Kunst: er kann wunderbare Dinge über das soziale Leben, die Politik etc. sagen; auch darüber liebt er es, mit anderen zu diskutieren und in Les Milles hat er es geschafft, sich mit den ‚Intellektuellen‘ zu überwerfen. Im Gegensatz zu mir liebte er Diskussionen, die immer damit endeten, daß er über die Dummheit derer erschrak, die mit ihm diskutierten. Er war immer konsterniert darüber! Manchmal war er fast böse mit mir, daß ich niemals an derartigen Diskussionen teilnehme; aber nach und nach hat er zugegeben, daß meine Haltung vernünftig ist, da ich bereits einige Erfahrung darin habe, die er erst machen mußte. Wir beide diskutieren nur selten, denn wir sind fast immer einer Meinung; wir sprechen über die kleinen Dinge, wir betrachten sie oder verteilen gemeinsam den Mist, immer in vollkommener Eintracht. Ich weiß nicht, was er an mir nicht mag. Was mich betrifft, ich finde, daß der Künstler übertreibt, da er ein bißchen zu sehr ‚vernünftlet‘ über alles und gegenüber denen, die nicht argumentieren können. So kommt es denn, daß sein Bedürfnis, immer eine vernünftige Argumentation vorstellen zu wollen – und das tut er, indem er laut denkt – die Gespräche erstickt, die man mit Leuten haben könnte, die sich darauf beschränken müssen, Eindrücke wiederzugeben, die sich von Überlegungen eines ‚Durchschnittsmenschen‘ forttragen lassen. Diese ‚Manie‘ – der Ausdruck ist übertrieben! – macht ihn manchmal nervend, denn er müßte wissen, daß es manchmal nicht angebracht ist, exakt zu argumentieren! – Aber hinter dieser ‚Manie‘ dürfte sich anderes verstecken, seine Künstlernatur, die er im Sprechen unterdrückt; ich würde gerne seine Bilder sehen und seine Art daran zu arbeiten. – Du siehst, er gibt mir mächtig nachzudenken und interessiert mich lebhaft!...“

23. März 1940 Hochzeit mit Barbara Picton Warlow.
Am 19. Mai wird Léo einer Prestatär-Compagnie in der Nähe von Le Mans zugeteilt. Infolge des französischen Debakels beim Einmarsch der Wehrmacht kommt er nur bis Saint Sauveur bei Bellac, wo er am 2. August 1940 die Einbürgerungsurkunde seiner Tochter Anna unterzeichnet, die am 7. Mai 1940 geboren worden war.
Er wird demobilisiert und lässt sich am 2. Oktober erneut in Châteaunoir nieder.

1942 Mit knapper Not entkommt er den Deportationen vom Sommer 1942. Von da an muss er sich in Châteaunoir verstecken, um jegliche Gefahr einer Inhaftierung abzuwenden.
Auszug aus den Erinnerungen von Alfred Marshall:
„Was Léo in diesen schrecklichen Jahren während der deutschen Besatzung Frankreichs widerfahren ist, steht in den ersten Briefen mit Datum vom 12. April bzw. 11. Juli 1944, die er uns nach der Befreiung schickte:
‚Dies ist der erste Brief, den ich an Euch richten kann. Ende August habe ich einen amerikanischen Soldaten gebeten, Euch mitzuteilen, dass wir wohlauf sind (die Nachricht haben wir erhalten). So hoffe ich, dass Ihr bereits wisst, dass wir diese schreckliche Zeit der deutschen Besatzung überlebt haben. Die Gestapo kam mehrere Male zu Besuch. Sie suchten nach einem gewissen Maler, traten ein und zogen wieder ab. Als im August 1942 die Massendeportation der Juden begann, lebten wir ständig in höchster Alarmbereitschaft. Sie kamen zu uns, nahmen uns aber nicht mit, weil wir Tony bei uns hatten, und sie erklärten, Personen mit Kindern unter zwei Jahren dürften bleiben. Von da an wohnte ich nicht mehr im Haus, sondern richtete mich in einem der Hühnerställe ein. Ich traf Vorkehrungen, um in jede Richtung entkommen zu können, bereit, beim geringsten Anzeichen einer Gefahr zu fliehen.
Ich habe den Ort nie verlassen. Barbara (die keine Jüdin ist) brachte mir alle Mahlzeiten in den Hühnerstall. Erst nach der Befreiung am 28. August 1944 konnte ich wieder auftauchen.
Viele unserer Freunde sind umgekommen. Manche konnten fliehen.
Unsere Tochter Anna war ab Oktober 1943 in einer Schule in der Nachbarschaft untergebracht, um vor der Gefahr, die unser Haus umgab, geschützt zu sein. Im September 1944 kam sie wieder zu uns.
Ohne unsere Hühnerzucht hätten wir nicht überleben können.
Wir sind in guter Verfassung, wenn auch ausgelaugt und erschöpft. Wenn es Dir möglich ist, uns Kleider zu schicken, wir haben sie bitter nötig.“
„Im Sommer 40 habe ich den Rückzug in der französischen Armee mitgemacht – 350 km zu Fuß, ein recht bemerkenswertes Erlebnis und das bei schönstem Wetter durch himmlische Landschaften. Das große Malheur später hier, außer dem fürchterlichen Hunger, war die Gestapo und ihre französischen Helfershelfer. Sie waren mehrere Male hier auf dem Château Noir und es ist ein recht großes Wunder zu nennen, dass wir unbehelligt blieben, während alle anderen Bewohner viel auszustehen hatten. Das erschien so unfasslich, dass man mich beinahe für ein Glied der besiegten Organisation halten wollte.“
(Brief an seinen Freund, den Kunsthistoriker Fritz Novotny, vom 6. Juni 1947, nach sechsjähriger kriegsbedingter Unterbrechung der Korrespondenz.)
Auszug aus einem Brief Léos an seinen Bruder Alfred Marshall:
„Ich habe Deine Postkarte mit Datum 1. Oktober 1944 erhalten und bin sehr überrascht, dass Du in der Armee bist. Wir sehen jeden Tag amerikanische Soldaten; es ist nicht zu beschreiben, was wir empfanden, als am 20. August 1944 der erste amerikanische Soldat vor unserem Haus auftauchte. Wir hatten so lange auf diesen Augenblick gewartet, wir konnten es nicht glauben, als wir sie leibhaftig vor uns sahen. Die letzten Monate vor der Befreiung war eine fürchterliche Zeit. Die meisten unserer Freunde sind deportiert worden.
Berichte mir von unserer Familie, wir waren allzu lange ohne Nachrichten. Es ist so wunderbar, dass wir wieder korrespondieren können.“

1944 Nach der Befreiung der Provence (August 1944) beginnt er wieder zu zeichnen und lässt sich insbesondere von biblischen Themen inspirieren. Gleichzeitig vertieft er seine Studien zur Lithographie-Technik.

1945 Fünf der Hütten, die vor dem Krieg als Hühnerställe dienten, werden versetzt und neben der Maison Maria aufgestellt, um künftig als Arbeitsatelier zu dienen. Eine der Hütten wird um eine in Marseille erworbene lithographische Handpresse und eine Druckerpresse aufgebaut.

1947 Mit Verordnung des Ministeriums für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerung erhält er am 22. Oktober die französische Staatbürgerschaft.
Im April beginnt er mit der Arbeit am „Lukas-Evangelium“, ausgehend von religiösen Zeichnungen, die er seit 1944 und vielleicht während des Krieges angefertigt hatte. Ursprünglich hatte er drei Versionen geplant, jeweils in Latein, Englisch und Französisch. Die lateinische und englische Fassung sollten im Entwurfsstadium bleiben, nur die französische Version wird letztlich fertiggestellt. Diese Arbeit, bei der ihn seine Ehefrau Barbara unterstützt und sich um die Typographie kümmert, wird ihn bis Dezember 1949 in Anspruch nehmen.
Auf Initiative eines in die USA ausgewanderten Cousins, der Professor an der Universität von Louisville ist, findet in der dortigen Universität eine gemeinsame Ausstellung mit der amerikanischen Künstlerin Esther Worden-Day statt.
Am 30. Dezember lernt Léo André Masson kennen, der sich seit kurzem in Aix niedergelassen hat. In seinem Tagebuch notiert er: „Bekanntschaft von André Masson gemacht, der sich, wie es scheint, endgültig in Harmas niedergelassen hat… charming man“.

1948 Auf Vermittlung von Pierre Tal Coat und André Masson trifft er den Kunsthändler deutscher Herkunft Curt Valentin, den er zuletzt 1929 oder 1930 in Berlin gesehen hatte und der nach seiner Emigration in die USA in New York ein wichtiger Kunsthändler geworden war. Er zeigt sich von der laufenden Arbeit am Evangelium beeindruckt und kauft sofort zwei Exemplare des Werkes als Subskription.

1949 Am 2. Mai schreibt Léo in sein Tagebuch über den „Lukas“, der sich im Druck befindet: „… Tal- Coat hat sich das Buch angesehen und es bewundert: er sagte: „es ist wie eine sprudelnde Quelle“.
Am 19. September besucht der Architekt Fernand Pouillon in Begleitung des Keramikers Philippe Sourdive zum ersten Mal Léo Marchutz und erwirbt umgehend einige seiner Werke.
Am 11. Dezember schreibt Léo in sein Tagebuch: „St. Luc finished!“
Er beginnt, ein eigenes System der Farblithographie zu erarbeiten, das er im Laufe der folgenden Jahre weiterentwickeln wird.

10. Januar 1950 Er beendet das 1949 begonnene Tal-Coat-Album, erstes Beispiel für eine Auftragsarbeit, die er als Lithograph für einen anderen Künstler erbringt.
Erste Zusammenarbeit mit André Masson am Album „Sur le Vif“, das im Juni vollendet wird. Kahnweiler schreibt am 3. November: „Picasso fand die Lithographien von André großartig und Ihre Arbeit bemerkenswert. Er sprach darüber mit Mourlot und mit allen Leuten – und vor allem mit mir, mit echter Begeisterung.“
Ab 1950 entstehen die ersten Lithographien zu Aix-en-Provence.
1951 Mitarbeit an der Veröffentlichung des „Toro-Albums“ von André Masson. Das Werk wird im November fertiggestellt.

1952 Er produziert das poetische Werk „Langue“ (Sprache) von Pierre-Jean Jouve, für das er zusammen mit seiner Frau die typographischen Arbeiten anfertigt und das Anfang Mai fertiggestellt wird. Er beteiligt sich am Album „Voyage à Venise“ (Reise nach Venedig) von Masson, das im Dezember fertig ist, und veröffentlicht das Album „Lithographies d’Aix en Provence“ (Lithographien von Aix-en- Provence), eine Synthese seiner eigenen Arbeit zu den Straßen von Aix, die ihn seit 1950 beschäftigte.
„Venedig ist ein Glanzstück. Ich finde, dass noch nie Ähnliches geschaffen wurde. Alle, die es gesehen haben, waren ergriffen. Es ist ein wundervolles Werk, was zum großen Teil Ihrer Mitarbeit, mein lieber Marchutz, zu verdanken ist. Picasso, zum Beispiel und Françoise Gilot waren des Lobes voll. Und sogar im Gegensatz zu meiner Einschätzung wird sich das nicht einmal schlecht verkaufen.“ (Brief von Daniel-Henri Kahnweiler an Léo Marchutz mit Datum 22. April).
Zum Album „Lithographies d’Aix en Provence“, das Léo an Pierre-Jean Jouve geschickt hatte, schreibt jener am 23. November: „Nachdem Sie so viel Liebe in mein Buch hineinlegten, eine bewundernswerte Arbeit, schenken Sie mir jetzt dieses wundervolle Album mit Bildern, in dem all Ihre Künste wiederzufinden sind: die des Malers, des Graveurs und des Druckers. Die Darstellung dieser Figuren zwischen dem Stein und der Sonne ist bewundernswert, angeordnet wie in einer musikalischen Form… Ich danke Ihnen von ganzem Herzen und bewundere Sie gleichermaßen.“

1953 Das Werk „Ordonnances“ von Fernand Pouillon kommt aus dem Druck mit einem Vorwort von Pierre Dalloz. Es versammelt Architekturskizzen zu alten Stadtpalästen von Aix-en-Provence. Zudem enthält es jeweils drei Originallithographien zu Aix von Léo Marchutz und André Masson.

1954 Ab ersten Januar ist Léo Marchutz mit Fernand Pouillon durch einen Künstlervertrag verbunden.
11. bis 25. April Reise nach Norditalien.
„Venturi über meine Lithos von Venedig: etwas Guardi, etwas Cézanne und ein bisschen Verrücktheit.“ (Tagebuch, 29. Juni 1954)
Anfang August begibt er sich auf Einladung von Fernand Pouillon nach Algier zur Einweihung des neuen Wohnviertels Diar-el-Mahçoul.

1955 April/Mai Reise nach Norditalien.

1956 Er ist Kommissar der Cézanne-Ausstellung, die von der Stadt Aix-en-Provence zu dessen 50. Todestag im Pavillon de Vendôme organisiert wird. Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit den Städten Den Haag, Zürich und München realisiert.

1957 Ausstellung in der Fränkischen Galerie in Nürnberg und vom 19. März bis 13. April Ausstellung von Zeichnungen und Lithographien in der Galerie Craven in Paris.
Über die Ausstellung in Paris schreibt Armand Lunel: „Hüten wir uns, dem ersten Eindruck nach hier von abstrakter Malerei zu sprechen! Der Gegenstand, das Motiv, diese provenzalischen Weiler, diese alten Straßen und kleinen Kapellen von Aix, diese Kanäle und Brücken von Venedig, die von den Evangelien inspirierten Szenen bleiben beim Betrachten durchaus sichtbar. Alles ist jedoch destilliert, dekantiert, dank einer sehr subtilen Kunst, die nur die sozusagen greifbare Essenz bewahren und preisgeben wollte und konnte. Ein Strich, in dem akrobatische Spiralen dominieren, der jedoch nicht den geringsten Anspruch auf ein Bravourstück erhebt, der keineswegs gefallsüchtig nach Erstaunen trachtet, und dieselbe Nüchternheit bei der Verwendung der Farben wie bei der Linienführung. Angesichts eines solchen Gelingens stellt man sich Léo Marchutz wie mit einem Engelshaarpinsel arbeitend vor, und zweifellos hätte sein Motto lauten können: „Sehen, spüren, verstehen lassen, ohne zu insistieren.“
Léos Vater Carl Marschütz stirbt in Los Angeles im Alter von 94 Jahren.

1958 Im Frühjahr bezieht er sein neues Atelier, das Fernand Pouillon auf einem Gelände gegenüber seinem eigenen Wohnhaus La Brillane in Aix erbauen ließ.

1959 Ende August/September: Reise nach Bayern und Wien.
Ab Oktober erteilt er einmal pro Woche Unterricht in Malerei am Institute for American Universities in Aix-en-Provence.
Im Oktober Reise nach Venedig.
Kommissar der Van-Gogh-Ausstellung, die vom 3. Oktober bis 5. Dezember in Aix stattfindet. Unter der Leitung von Georges Duby, der Verbindungen zur Universität von Aix unterhält, finden im Rahmenprogramm zur Ausstellung Diskussionsrunden statt, unter anderem mit Jean Leymarie und dem Ingenieur Van Gogh, einem Neffen des Künstlers.

1960 Kommissar der Matisse-Ausstellung, die ab 8. Juli im Pavillon de Vendôme in Aix stattfindet.
Im Oktober Reise nach Wien und Italien (Venedig).
Beginn der juristischen Probleme Fernand Pouillons, der den Vertrag mit Léo Marchutz nicht mehr erfüllen kann. Im Dezember erklärt sich der Galerist Tony Spinazzola in Aix bereit, Fernand Pouillons Nachfolge zu übernehmen.
Der Schriftsteller und künftige Nobelpreisträger (1981) Elias Canetti besucht Léo Marchutz in seinem Atelier. Nach diesem Besuch schickt Canetti ihm seinen Roman Die Blendung mit folgender Widmung: „Für Leo Marschütz, in Bewunderung seiner edlen und herrlichen Kunst dieses Buch der Verzweiflung.“

1961 Reise nach Wien (14. April bis 4. Mai) zur Vernissage der Cézanne-Ausstellung, die in Partnerschaft mit jener von Aix stattfindet.
Vom 1. Juli bis Ende August findet im Pavillon de Vendôme in Aix eine große Cézanne-Ausstellung statt, die Léo kuratiert. Bei dieser Ausstellung macht er nähere Bekanntschaft mit Adrien Chappuis, dem Autor des kritischen Werkeverzeichnisses zu Cézannes Zeichnungen.
Vom Maler Alberto Giacometti, der in New York auf Vermittlung von Alice Rewald Gemälde von Léo aus den dreißiger Jahren und neuere Lithographien gesehen hat, wird berichtet: „er meint, es sei ein Verbrechen, bei Ihrem Talent nicht zu malen – ich habe ihm auch Ihre Lithos gezeigt, die er hervorragend fand.“

1962 Im Juni Reise nach Wien über Norditalien.
Vom 5. bis 24. Juli persönliche Ausstellung in der Galerie Spinazzola in Aix-en-Provence. Zu den Besuchern zählt Max Ernst, den Léo 1939 während seiner Internierung im Lager Les Milles kennengelernt hatte. Georges Duby schreibt die Einleitung zum Katalog.

1963 Der Rektor der Universität von Nizza Marcel Ruff veranlasst einen öffentlichen Auftrag an Léo, ein Werk für die Fakultät in Nizza zum Thema Dante und die göttliche Komödie zu schaffen.
Im Sommer 1963 arbeitet er mit John Rewald und Fritz Novotny am Werkekatalog zu Cézanne. John Rewald hatte nach Lionello Venturis Tod im Jahre 1961 dessen Nachfolge übernommen.
Auf Initiative von Fernand Pouillon, der den Bau einer Kirche mit Malereien von Léo plant, finden im Oktober erste Projektionen auf die Wände des Institut Universitaire Américain in Aix statt, wobei ausgehend von der Projektion früherer Zeichnungen monumentale Malereien entstehen sollen. Das Ergebnis ist beeindruckend. Léo notiert in seinem Tagebuch: „Am Samstag Projektion in der Kapelle… Es war außerordentlich faszinierend… Maßstab ungefähr 2,50 bis 3 Meter, vielleicht sogar mehr, und nichts, gar nichts ging verloren, im Gegenteil, ich weiß nicht warum, aber es sah wundervoll aus. Uns allen hat es gefallen…“

1964 „Wir machen dieser Tage interessante und recht erfolgreiche Erfahrungen (‚wir‘ bedeutet, meine Assistenten und ich), indem wir Zeichnungen von Figuren (Auszüge aus der Lukas-Bibel und ähnliche) in Überlebensgröße auf die Wände übertragen. Die Wirkung ist tatsächlich erstaunlich, wir arbeiten zunächst auf Papier, werden aber bald zu endgültigeren Dingen gelangen …“ (Brief von Léo an seinen Bruder Alfred, 6. Februar 1964).
April/Mai Fertigstellung des Sainte Victoire Albums (in 12 Exemplaren) in Zusammenarbeit mit Sam Bjorklund.
„Ich schreibe Dir in dem Augenblick, da ich die Arbeit am Sainte Victoire Album beende, dessen Blätter allmählich mein ganzes Atelier ausfüllen. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Dinge hinzufügen: In meinem Tagebuch mit Datum 23. April 1947 schrieb ich: ‚Wann werde ich meine Sainte Victoire Serie beginnen?‘ Dies zeigt eindeutig, dass ich dieses Werk seit mehr als 16 Jahren realisieren wollte. Erste Versuche dazu gab es 1959 und seither arbeite ich mit Unterbrechungen daran, und das Album jetzt, das ich für gut halte, ist sozusagen die Vollendung dieser Phase meiner Arbeit. Eine solche Arbeit bringt natürlich nichts ein. Der große Delacroix erklärte, die beiden notwendigen Bedingungen für künstlerische Vollendung seien Einsamkeit und ein Mindestmaß an Sicherheit: Einsamkeit hatte ich gewiss.“ (Brief von Léo an seinen Bruder Alfred, 1. Mai 1964)
Im April beginnt er mit der Arbeit an einer Freske der Montagne Sainte Victoire für eine Wand des Institut Américain d’Aix, wobei er die neue Projektionstechnik für Zeichnungen oder Lithographien mithilfe eines Antiskops einsetzt.
Mai/Juni Reise nach München und Venedig.
Im Sommer arbeitet er erneut mit John Rewald und Fritz Novotny am Werkekatalog zu Paul Cézanne, der 1965 erscheinen soll.

1968 Veröffentlichung der „Anmerkung zur Malerei“, die der Ecole Marchutz als Manifest und grundlegender Text für den Unterricht gilt.

1969 Im Mai gleichzeitige Ausstellung an drei verschiedenen Orten in Memphis, Tennessee, USA (in einer Kirche, einer Kunstgalerie und an der Southwestern Universität).
Die drei Bilder La Vierge Marie (Die Jungfrau Maria) L’Ange Gabriel (Der Engel Gabriel) und Crucifiction, Marie au pied de la croix (Kreuzigung, Maria am Kreuz) werden dauerhaft in der Kirche Saint-Marc Jaumegarde bei Aix ausgestellt.

1970 Vom 23. Oktober bis 5. November: Ausstellung in der Kunstgalerie „La Muraille“ in Besançon zusammen mit vier weiteren Künstlern aus der Provence.

1972 Ende Juni bis Ende September, Ausstellung von Monumentalwerken in der Abbaye de Silvacane. Georges Duby schreibt nach dem Besuch der Ausstellung an Léo: „Dieser zisterziensische Rahmen ist wirklich genau jener, der ihren Werken gemäß ist. Wir haben bei der Betrachtung einen Moment großer Freude erlebt und danken Ihnen dafür.“ Adrien Chappuis schreibt nach dem Besuch derselben Ausstellung: „Was wir von Ihren Werken im Atelier und in Silvacane gesehen haben, hinterlässt bei uns Eindrücke von Kunst und Geist, die uns sehr wertvoll sind. Wir wissen, sie sind einzigartig in der Welt, und dass damit so einfach Freundschaft verbunden ist, ist eine wunderbare Sache.“ (Brief mit Datum vom 10. September 1972)
Gründung der Ecole Léo Marchutz in Aix. Diese Schule wird 1984 dem Institut Universitaire Américain von Aix-en-Provence angegliedert.

1973 Mai/Juni Ausstellung im St. John’s College in Santa Fe, Neu Mexiko (USA).

1976 Léo Marchutz stirbt am 4. Januar im Krankenhaus von Aix-en-Provence. Er wird am 6. Januar auf dem Friedhof von Le Tholonet beigesetzt.

Übersetzung: Erika Mursa